Dr. Stefan Carsten: Plädoyer für eine neue Mobilität
Beginnen wir mit den Fakten: Laut Umweltbundesamt subventioniert der deutsche Steuerzahler und die deutsche Steuerzahlerin das automobile System mit rund 17 Milliarden Euro pro Jahr – und dass nur für Dieselsubventionierung, Entfernungspauschale, das Dienstwagenprivileg und die Förderung von Biokraftstoffen. Gleichzeitig ist der Verkehrssektor für fast 30 Prozent der gesamten CO2-Emissionen der EU verantwortlich, wovon 72 Prozent auf den Straßenverkehr entfallen. In vielen anderen Bereichen wurden die Emissionen seit 1990 reduziert. Nicht jedoch im Verkehrssektor. Die Einführungen eines kostenfreien ÖPNVs für alle Bürgerinnen und Bürger würde den Staat zwischen 12 bis 15 Milliarden Euro pro Jahr kosten.
Am Geld hat es in Deutschland noch nie gelegen, wenn wir über Innovationen im Verkehrssystem sprechen, im Gegenteil: Die Kosten, die so häufig gegen die schnelle Umsetzung der Verkehrswende angeführt werden, ist das denkbar schlechteste Argument. Während jeder gefahrene Kilometer mit dem Auto die Volkswirtschaft 0,11 Euro kostet, gewinnt die Gesellschaft bei jedem gefahrenen Kilometer mit dem Fahrrad 0,18 Euro und beim zu Fuß gehen 0,37 Euro (vor allem durch das Abbilden von Gesundheits- und Umweltkosten). Addiert man diese Werte für die Europäische Union, dann ergeben sich Kosten von 500 Milliarden Euro für das Auto und einen Nutzen von 24 Milliarden, bzw. 66 Milliarden pro Jahr für Fahrrad und zu Fuß gehen.
Tritt die Automobilindustrie die legitime Nachfolge der Tabakindustrie an?
Die Wahrscheinlichkeit, dass der globale Temperaturanstieg in den kommenden vier Jahren erstmalig das 1,5 Grad-Ziel reißt, beträgt 50 Prozent. In Deutschland beträgt der Temperaturanstieg aktuell bereits 1,6 Grad. Kein Wunder, wir sind ja auch das einzige Land weltweit, dass Plug-In Hybridautos fördert, deren Umweltemissionen nachweislich deutlich über den Herstellerangaben liegen. Tritt die deutsche Automobilindustrie die legitime Nachfolge der Tabakindustrie an? Aber diese Zeiten sind ja zum Glück bald vorbei. Die Versorgungskrise durch die Coronapandemie, u.a. durch logistische Engpässe in China hervorgerufen sowie der russische Angriffskrieg auf die Ukraine zeigen nicht nur die moralischen Unzulänglichkeiten unseres Wirtschaftsmodells, sondern erhöhen den Druck auf alle Akteure zum Gegensteuern. Während die VertreterInnen der Mineralöl- und Automobilindustrie noch immer auf die Relevanz von fossilen, synthetischen und/oder Bio-Kraftstoffen verweisen, zeigen unabhängige Untersuchungen längst, dass dies ein energetischer und vor allem nachhaltiger Irrweg ist.
Zum Glück wird Umwelt- und Verkehrspolitik mittlerweile zu großen Teilen in Brüssel verhandelt und nicht in Berlin. Nur deswegen steht das Ausstiegsszenario für Verbrenner (Diesel, Benzin) mit dem Jahr 2035 in Europa so gut wie fest. Und während es in Deutschland noch immer einzelne Automanager gibt, die den BürgerInnen weismachen wollen, wie nachhaltig Verbrennungsmotoren sind, werden von zahlreichen neuen Akteuren, neue Geschäftsmodelle und Produktkonzepte für Elektroautos präsentiert – E-Volution. Gleichzeitig verschwinden die fossilen Zeugen aus dem Verkehrsumfeld. Tankstellen werden nicht mehr gebraucht und wandeln sich zu Mobility Hubs, Kulturräumen oder Kiosken. Immer mehr Städte wie Paris, London und Amsterdam erhöhen weiter den Druck und verkünden deutlich frühere Verbote für fossile Antriebe. Das ist nicht nur Umweltpolitik, sondern immer mehr auch Wirtschafts- und Standortpolitik. Die Batterie ist das Symbol einer wissensbasierten Gesellschaft, in der Lebensqualität, Gesundheit und Nachhaltigkeit zu den Kernprinzipien wirtschaftlicher Attraktivität gehören.
Sprechen wir also über die neue Mobilität
80 Prozent aller Wege beginnen oder enden an der eigenen Haustür. Hier setzt der wichtigste Hebel des Transformationsprozesses an – nicht nur in urbanen Räumen und suburbanen Stadtteilen, sondern auch auf dem Land, Connecting the Countryside. Immer mehr Akteure und Akteurinnen nehmen sich den Herausforderungen an und bieten flexible Mobilitätskonzepte in Räumen, die dafür im herkömmlichen Sinne nicht geeignet sind. Der ländliche Raum mobilisiert sich – endlich. On-Demand Ridepooling erweist sich als das Zaubermittel sowohl für einen modernen ÖPNV als auch private Dienste. Sowohl mit FahrerIn als auch autonom. Dann nämlich kommt der Bus, wenn ich ihn brauche und nicht, wenn der Fahrplan sagt, dass ich jetzt anrufen darf.
Frontdoor Mobility definiert neue Stadtviertel und Neubauprojekte. Wer im europäischen Ausland schon mal einen neu realisierten Vorort besucht, kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus: hohe Dichten, funktionale Mischung (50 Prozent Wohnen, 50 Prozent Arbeiten), ein öffentlicher Raum, der für die Menschen da ist und nicht für Autos und eine hervorragende Anbindung an den ÖPNV. Weil die deutsche Stellplatzverordnung aus den 1930er Jahren stammt, hängt Deutschland hier noch in der Vergangenheit fest. Neubauprojekte zeigen hier vor allem einen Parkplatz mit angeschlossener Wohnmöglichkeit. Konzepte, die vor allem die weibliche Bevölkerung nachhaltig treffen werden.
Femobility, die weibliche Perspektive auf die Mobilität, wird immer wichtiger, und ist nicht nur ein zentraler Trend unserer Zeit, sondern vor allem ein Weckruf. Der in den 1950er-Jahren entstandene „Gender Mobility Gap“ bestimmt noch immer die Mobilität von Frauen, die sich deutlich von der männlichen Mobilität unterscheidet. Mobilität im 21. Jahrhundert bedeutet nämlich allzu häufig: Mobilität von Männern und für Männer. Doch die Zeiten ändern sich: Frauen werden zunehmend zu Gestalterinnen einer ganzheitlichen Mobilität, die auf Inklusion, Nachhaltigkeit und einen echten öffentlichen Raum setzt, der nicht die Bedürfnisse der Hälfte der Bevölkerung außer Acht lässt.
Diversität ist gleichzeitig die anerkannte Voraussetzung für die Entwicklung von zukunftsfähigen Produkten und Diensten, die echten Nutzen versprechen – für Alle. Der Fokus auf weibliche Mobilitätsmuster macht deutlich, dass dieser Wandel vor allem für Sharing-Konzepte neue Ideen benötigt, um den Alltag hochmobiler Frauen zu erleichtern. Eine Mobilitätssystem, das Femobility realisiert, kommt der Verkehrswende schon sehr viel näher.
Die Verkehrswende ist zuallererst eine Mobilitätswende
Dort, wo die Angebote an Mobilität bereits heute hoch sind, ist die Motorisierungsrate besonders niedrig. In Berlin gibt es mittlerweile über dreißig alternative Verkehrsmittel, um von A nach B zu gelangen. Das Auto spielt in solchen Umfeldern nur eine geringe Rolle. Mehr Mobilität bedeutet weniger Verkehr. Deswegen braucht es eine Neubewertung und Umwidmung des öffentlichen Raums. Heute sind zwischen 50 und 60 Prozent des öffentlichen Raumes unter Kontrolle von Autos, fahrend, stehend oder parkend. Alle übrigen Verkehrsmittel und Nutzungen teilen sich den Rest: Parks, Fußgängerzonen, Rad- und Fußwege, Haltestellen des ÖPNVs. Im englisch-sprachigen Raum gibt es dafür eine bekannte Redewendung: We’ll get what we design. Wenn wir Straßen entwerfen, bekommen wir Autos. Wenn wir Parks und Grünflächen entwerfen, bekommen wir Menschen und Tiere.
Neue Räume und neue Angebote sind die Voraussetzung für die Verkehrswende, in Städten, Vororten und im ländlichen Raum. Diese unterstützen vor allem die aktive, gesunde und nachhaltige Mobilität. Nahezu täglich werden neue Konzepte der Fahrradbranche vorgestellt und im Alltag erprobt – Xycles. Individualität und Flexibilität stehen im Mittelpunkt, egal ob mit 2, 3 oder 4 Rädern, mit Dach oder ohne. Im Kontext neuer städtischer Infrastrukturpraktiken werden sie auch für immer mehr PendlerInnen zum neuen Statussymbol. Dank Batterieunterstützung verbleibt die Pendlerstrecke nicht mehr länger nur dem Auto vorbehalten. Die Wachstumsraten und Aussichten sind rosig – der Markt für Lastenräder soll auf 2 Millionen im Jahr 2030 in Europa wachsen. Gebremst wird die Euphorie einzig und allein durch logistische Engpässe und die russische Invasion in der Ukraine. Wie gesagt, wir brauchen ein neues Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell, um die Verkehrswende zu realisieren.