Sven Jungmann - Generative KI in der Medizin
Die Debatte um „Generative KI“ ist inzwischen auch schon in der Medizin angekommen. „Ich wünschte, GPT4 könnte mir sagen, welche Antikörper ich dieser Patientin geben sollte“ erklärte mir ein hoch respektierter und erfahrener Chefarzt vorgestern. „Mit all den personalisierten Therapien, die ständig neu auf den Markt kommen, kann ich den Überblick nicht mehr behalten.“
Es ist noch einiges zu tun, bis Generative KI in der Medizin Einzug finden kann.
Aber hier sind ein paar Ausblicke auf das, was uns erwartet:
1. Diagnostik
Zunehmend helfen KI-Algorithmen dabei, krankhafte Befunde auf Bildern zu erkennen, ob diese von MRTs, CTs, Röntgenaufnahmen, Ultraschall, Fotos, etc. stammen, spielt dabei keine Rolle. Doch bisher haben diese meistens nur die Auffälligkeiten auf dem Bild eingerahmt und gegebenenfalls eine Verdachtsdiagnose mit einer Wahrscheinlichkeitsangabe angeboten.
In der Zukunft ist denkbar, dass Generative KI auch ausführliche Befundberichte schreiben kann, die eine deutlich nuanciertere Darstellung dessen ermöglicht, was die KI ‘sieht’ und wie sie es einschätzt.
2. Personalisierte Medizin
Mit Generativer KI können individuelle Behandlungspläne erstellt werden, die unterschiedliche Daten berücksichtigen, wie beispielsweise genetische Informationen, Lebensstilfaktoren, Umwelteinflüsse, Medikamentenallergien, Pathologie-Befunde, etc. Diese personalisierten Daten werden dann verglichen mit Erkenntnissen aus medizinischen Datenbanken und wissenschaftlichen Publikationen.
Die Ärzte und Ärztinnen müssen es immer noch verifizieren und freigeben, aber eine generative KI hat das Potenzial, dafür zu sorgen, dass zumindest keine wichtigen Aspekte vergessen, wie beispielsweise Unverträglichkeiten, werden.
Und sie kann einen ärztlichen Bericht, der ja oftmals sehr komplex und voller Fremdwörter ist, für Laien umformulieren und wichtige Tipps für eine gute Zusammenarbeit geben. Stellen Sie sich vor, Sie würden einen Beipackzettel zu Ihrem Medikament bekommen, der wirklich für Sie persönlich geschrieben ist und nur das beinhaltet, was auch für Sie relevant ist — anstatt diesem Bibelpapier-Lappen, der einem das Gefühl gibt, man stirbt gleich, wenn man auch nur eine Aspirin-Tablette einnimmt.
3. Automatisierung von Routineaufgaben
Ich habe in meinem klinischen Alltag jeden Tag mindestens 2-3 Stunden mit Dokumentationsaufgaben verbracht. In der Zukunft kann dies möglicherweise auf eine halbe Stunde reduziert werden, wenn die KI für mich die Formulare für Krankenkassenberichte ausfüllt, Laborbefunde in Arztbriefen zusammenfassend (und idealerweise auch patientengerecht) erklärt und anhand der Daten aus dem Krankenhausinformationssystem schon mal den stationären Verlauf genau darstellt. Ärztinnen und Ärzte müssten dann nur noch ergänzen und korrigieren, statt alles selbst zusammenzutragen.
4. Medizinische Forschung
Auch in der Forschung haben viel Bürokratie, es müssen unzählige Protokolle angelegt werden, die Kommunikation mit den Behörden ist aufwändig und besondere Ereignisse müssen detailliert dokumentiert werden. Hier können deutliche Zeitersparnisse ermöglicht werden. Das grössere Potenzial liegt aber wahrscheinlich in der Automatisierung von systematischen Reviews und Meta-Analysen, die sonst Monate bis Jahre Arbeit für eine grössere Gruppe von Forscherinnen und Forschern bedeuten würde. Und Generative KI kann uns bei der Generierung neuer und vielversprechender Forschungshypothesen helfen, die uns Menschen vielleicht nicht direkt einfallen würden — das ist gerade bei der Erforschung seltener Erkrankungen hilfreich.
5. Telemedizin
Telemedizin bietet viele Möglichkeiten, ist aber oft dadurch limitiert, dass man nicht an hinreichende Ärztinnen und Ärzte kommt, die am anderen Ende der Leitung sitzen möchten. Und die Erstattung für telemedizinische Leistungen ist eher schlecht. KI-gestützte Chatbots und virtuelle Assistenten können Patienten und Patientinnen bei einfachen Anfragen unterstützen, medizinische Informationen bereitstellen und sogar bei der Überwachung von Symptomen und der Verwaltung von Medikamenten helfen. Wenn sie richtig im Zusammenspiel mit Ärztinnen und Ärzten arbeiten, können sie deren Produktivität massiv erhöhen.
6. Medizinische Ausbildung
Generative KI kann in medizinischen Simulationen und Lehrmaterialien eingesetzt werden, um den Lernprozess für Medizinstudierende und Ärzt:innen zu verbessern und zu beschleunigen. So kann es zunächst das klassische Googeln nach medizinischen Sachverhalten ersetzen und dabei helfen, schneller ganz konkrete Fragen zu beantworten.
Sie kann aber auch praktischen Lernen helfen — ein wichtiger Teil der Ausbildung sind beispielsweise Famulaturen und das Praktische Jahr. Hier lernen die Studierenden dadurch, dass sie ausgebildete Ärztinnen und Ärzte in der Behandlung echter Patient:innen begleiten. Leider erlaubt der klinische Alltag selten eine sehr engmaschige persönliche Wissensvermittlung, aber Generative KI könnte den Studierenden alles zu den Patient:innen und ihren Eingriffen erklären, wofür sonst keine Zeit bleibt und so den Lerneffekt jeder praktischen Erfahrung vertiefen.
Wie kommen wir da hin?
Insgesamt kann Generative KI also dazu beitragen, die Effizienz und Qualität der Gesundheitsversorgung zu verbessern und letztendlich dazu beitragen, bessere Ergebnisse für Patienten zu erzielen. Und obwohl ihre Technologie komplex ist, ist das Grundprinzip einfach: Sie vereint unterschiedliche Datenquellen in Sekundenschnelle, um aussagekräftige Erkenntnisse zu gewinnen und diese klar strukturiert zusammenzutragen. Doch ihre komplexen Fähigkeiten werfen auch Bedenken auf.
Genau wie bei anderen KI-Lösungen besteht die Gefahr der „Algorithmic Bias“, also einer gelernten Voreingenommenheit der Algorithmen, was zu einem ungleichen Versorgungszugang oder gar einer Diskriminierung bestimmter Patientengruppen führen könnte. Um diese Risiken zu minimieren, ist es entscheidend, dass generative KI-Algorithmen auf vielfältigen und repräsentativen Datensätzen trainiert werden.
Zweitens werden unsere Zulassungsbehörden und Gesetzgeber jetzt wieder einiges zu tun haben, um zu klären, wo und wie sich Generative KI im Medizinprodukte-Gesetz verortet und wie wir die inhaltliche Qualität und Nachvollziehbarkeit der Angaben sicherstellen.
Damit wir die Möglichkeiten der generativen KI-Technologie nutzen können, müssen wir uns auf folgende Aspekte konzentrieren:
- Aufbau einer Dateninfrastruktur – Um das Potenzial der generativen KI voll auszuschöpfen, müssen wir grosse, vielfältige und qualitativ hochwertige Datensätze integrieren, von PubMed bis zum Krebsregister. Dies erfordert Investitionen in eine Dateninfrastruktur, einschliesslich Datenarchitektur, Speicherung, Verwaltung und Analysewerkzeuge. Die aktuelle ePA-Debatte muss dringend ein paar Gänge hochschalten und diese neuen Entwicklungen mit einbeziehen.
- Partnerschaften mit KI-Expert:innen – Unsere Krankenhäuser und Versicherungen sind nicht hinreichend ausgestattet, um dieses Potenzial zu heben. Sie werden Partnerschaften mit fokussierten Start-ups oder Tech-Unternehmen und dedizierten Beratungsfirmen benötigen, um sich schnell an die neuen Realitäten anpassen zu können.
- Schulung und Weiterbildung des Personals – Und letztlich müssen auch das ärztliche und pflegerische Personal Kompetenzen entwickeln, um diese Technologien und deren Anwendungsmöglichkeiten zu verstehen. Wir müssen unsere statistische Kompetenz erweitern und auch die Prinzipien von maschinellem Lernen und Künstlicher Intelligenz im Kontext der Medizin tiefer verstehen.
Klar ist, für alle Beteiligten gibt es wieder viel Neues zu lernen.
Möchten Sie mehr erfahren über Generative KI in der Medzin, buchen Sie Dr. Sven Jungmann als Redner für Tagungen, Konferenzen oder Kongresse. Anfragen unter: +49 (0)30 640 777 42 oder contact@leading-minds.com