Thomas Ramge - Sprunginnovation
Um den großen Herausforderungen unserer Zeit zu meistern, müssen wir die Innovation neu erfinden. Dazu brauchen wir ein optimistisches Zukunftsbild. Pessimismus ist Zeitverschwendung und macht schlechte Laune. Eine konkrete Utopie hingegen kann zu selbsterfüllenden Prophezeiung werden.
»Innovare« heißt »erneuern«. Es heißt nicht »ein bisschen besser machen.« Eine Sprunginnovation verändert unser Leben grundlegend zum Besseren und macht es nicht nur ein wenig bequemer. Sprunginnovatoren finden mit den Mitteln von Wissenschaft und Technik eine neue Lösung für ein relevantes Problem. Eine Sprunginnovation zerstört oft alte Märkte und schafft neue. Sie wirkt wirtschaftlich disruptiv und gefährdet jene, die in Pfadabhängigkeiten nur inkrementell innovieren, also erfolgreiche Technologien in kleinen Schritten verbessern.
Ein Essay von Thomas Ramge
Die erste Kulturpflanze war eine Sprunginnovation, das Einkorn vor rund 10 000 Jahren. Die Erfindung des Segelboots vor 6000 Jahren hat die Welt verändert, wie später der Nagel, der Zement und das Papier. Der Buchdruck und optische Linsen waren Sprunginnovationen und natürlich Dampfmaschine, elektrischer Strom, Fotoapparat und Flugzeug, Computer und Internet. War Penicillin die größte Sprunginnovation der Medizingeschichte? Oder das Wasserklosett? Oder doch die Antibabypille? mRNA wird im Rückblick vermutlich in der gleichen Liga spielen.
Ich bin Technikoptimist. Ich bin davon überzeugt, dass Wissenschaft und Technik in den kommenden Jahrzehnten viele Antworten auf die großen Herausforderungen unserer Zeit finden werden. Sie werden uns grüne Energie aus Wind und Sonne, Wasserkraft und Kernfusion im Überfluss bringen. Diese könnte so günstig sein, dass es sich kaum noch lohnt, sie abzurechnen. Durch CO2-freie Energie für weniger als zwei Cent pro Kilowattstunde lassen sich Armut und Hunger weltweit radikal senken. Mit ihr können wir der Atmosphäre in großen Mengen Kohlendioxid entziehen und den Klimawandel aufhalten. Die Welt wird dadurch deutlich friedlicher werden. Weniger Menschen müssen dann aus ihrer Heimat fliehen.
Mithilfe von Gentechnologie und Gesundheitsdatenrevolution stehen wir an der wissenschaftlichen Schwelle, die großen Krankheiten kleinzukriegen: Krebs und Demenz, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Autoimmunkrankheiten, psychische Erkrankungen und Lähmungen, Blindheit und schwere Hörschäden. Ich hoffe, dass es gelingt, den Alterungsprozess der Zellen deutlich zu verlangsamen, damit wir gesünder älter werden können. Und vielleicht sogar Zeit mit Ururenkeln zu verbringen.
Technikoptimist und seine Prognose
Durch Wissenschaft und Technik werden wir Biodiversität erhalten und Tierschutz stärken. Denn ultraintensive Landwirtschaft, gerne vertikal und mit resistenten Züchtungen, kann Flächenverbrauch für Nahrungsmittelproduktion reduzieren. Fleisch kommt hoffentlich alsbald nicht mehr aus dem Mastbetrieb, sondern naturidentisch aus einiger riesigen Petrischale. Wir werden elektrisch fliegen, in autonomen Drohnen, die keine Straßen brauchen. Für die Langstrecke gibt es CO2-neutrale Kraftstoffe, und vielleicht nehmen wir beim Flug nach Australien alsbald eine (zeitliche) Abkürzung durchs All. Digital sprunginnovierte Bildung wird so viel Spaß machen wie ein gutes Computerspiel, mit Robolehrern und menschlichen Pädagogen die Peer Learning im Kleinen coachen. Vielleicht macht diese Art Bildung dann sogar ein wenig süchtig.
Und ich wage die Prognose: In zehn Jahren werden wir alle KI-Assistenten benutzen, die uns bei unseren Entscheidungen unterstützen und dabei unsere Interessen vertreten, und nicht jene von Amazon, Google oder Apple. Wir werden in den kommenden zwanzig Jahren ein System entwickeln, um große Asteroiden umzulenken, die auf die Erde zusteuern. Und obwohl ich nicht bereit wäre mitzufliegen: Wir sollten bis 2050 eine dauerhafte Kolonie auf dem Mars gründen. Warum? Weil das uns Menschen helfen wird, unseren alten Entdeckergeist neu zu entdecken und wieder den Mut zu entwickeln, wirklich große Sprünge zu wagen. Die Startrampe hierfür hat in den 1940er Jahren der Philosoph Ernst Bloch gebaut.
Bloch hat die konstruktive Kraft der konkreten Utopie erkannt, und die Rolle der Wünsche und Sehnsüchte auf dem Weg dorthin. Wünschen wir uns eine gute Zukunft. Dann können wir diese gute Zukunft auch entwickeln, mit Erfindergeist und technischer Expertise, auf Grundlage humanistischer Werte und mit Freude am Fortschritt.
Dr. Thomas Ramge: Experte für Innovation und KI
Der Innovations- und KI-Experte Dr. Thomas Ramge denkt und schreibt an den Schnittstellen von Technologie, Ökonomie und Gesellschaft.
Thomas hat mehr als 15 Sachbücher veröffentlicht, darunter „Sprunginnovation – Wie wir mit Wissenschaft und Technik die Welt wieder in Balance bekommen“ (zusammen mit Rafael Laguna de la Vera), „Mensch und Maschine“ und „Augmented Intelligence“. Seine Essays und Reportagen erscheinen unter anderem in Die Zeit, Frankfurter Allgemeine Zeitung, brand eins, The Economist, Harvard Business Review, MIT Sloan Management Review und Foreign Affairs. Promoviert hat Thomas Ramge in Techniksoziologie zu KI-gestützter Entscheidungsassistenz. Er ist Assoziiertes Mitglied am Einstein Center for Digital Future sowie Alumni Senior Research Fellow am Weizenbaum für die vernetzte Gesellschaft. Seit Anfang 2021 moderiert der gelernte ARD-Journalist zudem den Podcast der Bundesagentur für Sprunginnovationen.
Seine Arbeiten wurden in rund 20 Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Deutschen Essay Preis 2022, dem Axiom Business Book Award 2019 (Gold Medal, Economics), dem Best Business Book of theThe Year on Technology and Innovation 2018 (by strategy+business), dem getAbstract International Book Award 2018, dem Herbert Quandt Medienpreis, dem Deutschen Wirtschaftsbuchpreis und dem ADC Award.