Sven Jungmann: Top 8 Tendenzen im Gesundheitswesen bis 2030
In Deutschland steht das Gesundheitswesen vor enormen Herausforderungen, die seine Nachhaltigkeit gefährden. Wachsender Kostendruck, steigende Unzufriedenheit unter Ärzt:innen und Pflegepersonal sowie mangelnde technologische Fortschritte im internationalen Vergleich stellen die Zukunftsfähigkeit des deutschen Gesundheitssystems infrage.
Die Kosten im Gesundheitswesen steigen kontinuierlich an, getrieben von Faktoren wie dem demografischen Wandel, der Zunahme chronischer Krankheiten und den hohen Kosten neuer Therapieansätze. Diese Entwicklung stellt das System vor finanzielle Engpässe, die sowohl Patient:innen als auch Leistungserbringer:innen belasten.
Gleichzeitig wächst die Frustration unter Ärzt:innen und dem Pflegepersonal. Hohe Arbeitsbelastung, bürokratischer Aufwand und fehlende Wertschätzung führen zu Unzufriedenheit und in vielen Fällen zu Burnout, was die Versorgungsqualität beeinträchtigt und den Personalmangel verschärft.
Darüber hinaus hinkt Deutschland bei der Implementierung von technologischen Innovationen hinterher. Während viele unsere Nachbarn fortschrittliche Ansätze wie Telemedizin, künstliche Intelligenz und datengetriebene Entscheidungsfindung nutzen, um die Patientenversorgung zu verbessern, bleibt Deutschland auf diesem Gebiet zurück, was die Effizienz und Effektivität des Gesundheitswesens beeinträchtigten.
Angesichts dieser Herausforderungen müssen dringend Veränderungen im deutschen Gesundheitswesen stattfinden, um ein nachhaltiges und zukunftsfähiges System zu schaffen. Es sind tektonische Verschiebungen voll im Gange, die dazu beitragen können, diese drängenden Probleme anzugehen und das deutsche Gesundheitssystem auf einen erfolgreichen Weg in die Zukunft zu führen.
Alle involvierten Akteure müssen sich jetzt auf diese neuen Realitäten einstellen. Und sie haben viele Themen miteinander zu besprechen.
Es sind nicht nur Trends, sondern tektonische Verschiebungen im Gesundheitswesen zu erwarten.
1. Der Wandel von „Output-basiert“ zu „Outcome-basiert“
Bisher werden Ärzt:innen üblicherweise nach der Anzahl der durchgeführten Eingriffe vergütet, was die Konzentration auf langfristige, nachhaltige Ergebnisse vernachlässigt. Die Verlagerung hin zur Outcome-basierten Vergütung, bei der Ärzt:innen anhand der Genesung des Patienten entlohnt werden, stärkt das Vertrauen zwischen Patienten und medizinischem Personal und fördert die Fokussierung auf langfristige Erfolge.
Um diesen Wandel zu schaffen, müssen wir zunächst geeignete (und überwiegend bereits verfügbare) Messinstrumente und Indikatoren für die Erfolgsmessung implementieren. Dann müssen wir unsere Vergütungsstrukturen anpassen und finanzielle Anreizsystemen erschaffen. Aber auch die klinische Praxis und Kultur im Gesundheitswesen brauchen ein Makeover. Und wir müssen kluge und vor allem auch pragmatische Wege finden, um Datensicherheit und des Datenschutzes bei der Verarbeitung von Patientendaten zu gewährleisten.
2. Der Wandel von intuitiv und empirisch zu präzise
Statt sich auf allgemeine Ergebnisse randomisierter kontrollierter Studien oder die eigene Intuition zu verlassen, wird die Medizin zukünftig präzisere und individuell angepasste Therapieoptionen bieten. Hierbei werden massive Datensätze herangezogen, um die mit einer Patientin hochgradig vergleichbare Fälle zu finden und daraus persönliche Therapie-Empfehlungen abzuleiten. Dies ist wichtig, um Patienten besser gerecht zu werden und Behandlungen effektiver zu gestalten. Es kann auch massiv Kosten einsparen, die durch Fehlbehandlung entstehen.
Hierfür brauchen wir eine sichere digitale Infrastruktur und ein rechtliches Rahmenwerk, das uns die Erfassung und Verarbeitung grosser Mengen klinischer Daten ermöglicht. Um diese Daten nutzen zu können, brauchen wir dann die Kompetenzen, um Big Data-Analysen und Künstliche Intelligenz zur Entscheidungsfindung einsetzen zu können, was auch umfangreiche Weiterbildungen unseres medizinischen Personals erforderlich macht.
3. Der Wandel von kurativ zu präventiv
Da soziale Determinanten (d.h. unsere Bildung, Freundschaften, Ernährung, körperliche Aktivität, natürliches und berufliches Umfeld, etc.) 80 % der gesundheitlichen Ergebnisse beeinflussen, ist die Verlagerung von einer kurativen zu einer präventiven Ausrichtung im Gesundheitswesen wichtig. Dies führt zu einer gesünderen Bevölkerung und reduziert die Belastung der Gesundheitssysteme. Um diese Veränderung zu erreichen, müssen präventive Massnahmen stärker gefördert und finanziert werden. Zudem sollten interdisziplinäre Ansätze entwickelt werden, um soziale Determinanten effektiv zu adressieren.
Hier werden wir nicht sehr weit kommen, wenn wir nicht die Finanzierung und die Anreizstrukturen im Gesundheitswesen anpassen. Wir müssen Standards für die Erfassung von sozialen Determinanten in die Gesundheitsversorgung integrieren. Um jedoch nachhaltig gesundheitsförderndes Verhalten in der Bevölkerung zu erreichen, müssen wir Gesundheit endlich über das Gesundheitswesen hinausdenken und verschiedene Sektoren wie Bildung, Umwelt und Sozialwesen zusammenbringen.
4. Der Wandel von reaktiv zu proaktiv
Die Entwicklung neuer Sensoren und eines intelligenten „Gesundheitsnervensystems“ ermöglicht es, frühzeitig in den Krankheitsverlauf einzugreifen, bevor Symptome auftreten. Dies verhindert schwere Krankheitsverläufe und Ausbreitung. Um diesen Wandel zu erreichen, müssen Technologie und medizinische Versorgung enger verknüpft werden. Investitionen in Forschung und Entwicklung sind notwendig, um geeignete Technologien zu schaffen und einzuführen.
Als MedTech-Unternehmer und Berater von Wagniskapitalgebern darf ich schon mal so viel verraten: in den kommenden Jahren werden wir eine Fülle an unvorstellbar mächtigen Sensoren in unser medizinisches Arsenal aufnehmen können. Aber gleichzeitig ist dies noch ein unterfinanzierter Bereich. Und sie werden nur dann eine breite Anwendung finden, wenn auf sie auch eine Konsequenz folgt. Das bedeutet, dass sie stark in digitale Gesundheitsangebote und telemedizinische Lösungen integriert werden müssen und auch Versorgungsleitlinien sich schneller als bisher auf technologische Neuerungen anpassen müssen.
5. Der Wandel von zentralisiert zu dezentralisiert
Das Krankenhaus als Zentrum der Gesundheitsversorgung war absolut sinnvoll als Idee der prädigitalen Ära. Aber sie sind auch oftmals ineffizient (wer geht denn gerne in ein Sushi-Restaurant, das auch Pizza, Steak und Bouillabaisse anbietet?) und gefährlich (hier treffen kranke Menschen auf alle denkbaren und oft antibiotikaresistenten Keime).
Heute können wir viele Dienstleistungen telemedizinisch in die Häuslichkeit der Menschen bringen. Ärztinnen und Ärzte müssen nicht mehr im selben physischen Raum sein, um sich zu einer Patientin zu beraten. Und die Medizin ist so komplex geworden, dass es schier unmöglich ist, in jedem Krankenhaus alle notwendigen Expertisen vorzuhalten.
Das bedeutet, wir müssen weg von dem Konzept der Maximalversorgung in einem Haus und uns genau überlegen, welche Dienstleistungen zentralisiert (d.h. wenige spezialisierte Hochleistungszentren auf die Republik verteilt) und welche dezentralisiert (also für alle Menschen relativ schnell erreichbar, egal wo sie leben) verfügbar sein müssen.
Für einige Dienstleistungen, wie eine geplante, nicht notfallmäßige Hüftgelenksoperation kann man Patienten auch zumuten, dass sie in eine andere Ecke Deutschlands fahren, dafür aber die bestmögliche Therapie erhalten. Währenddessen müssen andere Dienstleistungen, wie etwa Schwangerschaftsuntersuchungen oder die Notfallversorgung, durchaus weiterhin nah an der Patientin angeboten werden.
Hier kommt die Digitalisierung ins Spiel, denn sie ermöglicht eine stärkere Dezentralisierung der medizinischen Versorgung. Dies bringt medizinische Leistungen näher an den Alltag der Menschen und verbessert die Zugänglichkeit. Aus meiner Sicht wird die Rolle der Hausärztinnen und Hausärzte deutlich an Bedeutung zunehmen, denn sie werden zur zentralen Schalt- und Koordinierungsstelle eines komplexeren, dezentralisierten Versorgungssystems.
Dieser Wandel wird allerdings besonders schmerzhaft für viele der bestehenden Akteure — gutes Change Management wird dringend gebraucht. Wir müssen einige regulatorische Rahmenbedingungen anpassen und die Versorgungsstrukturen umfassend umgestalten, je nachdem, was wirklich in der Nähe der Bevölkerung gebraucht wird und was man zentralisieren sollte, um bestimmte Kompetenzen und Fähigkeiten maximal zu bündeln. Und wir müssen Hausärzte und Hausärztinnen in Datenwissenschaften schulen und mit digitalen Analyse- und Koordinationstools ausstatten.
6. Der Wandel von punktuell zu kontinuierlich
Bisher finden Behandlungen nur punktuell statt, meistens beim Besuch einer Ärztin oder Therapeutin. Dazwischen sind die Menschen mehr oder minder auf sich alleine gestellt. Das ist doppelt schlecht, denn erstens verfestigen sich so die notwendigen Verhaltensänderungen schlecht bzw. Therapien können nicht in einer hinreichenden Dichte erbracht werden und zweitens reduzieren wir die Sammlung wichtiger Datenpunkte über Krankheitsverläufe auf die wenigen Momente, in denen die Menschen mit dem Gesundheitswesen in Berührung kommen.
Wenn wir nun jedoch Sensoren, Chatbots, Telemedizin, Apps, etc. in den Alltag der Menschen integrieren, können wir zu einem kontinuierlichen Austausch zwischen Patient:innen und dem Gesundheitssystem ermöglichen. Das erlaubt uns dann zudem, schnell jene Personen zu identifizieren, die mehr Hilfe benötigen und ihnen diese ganz gezielt zukommen zu lassen. Dies ist besonders wichtig in Zeiten von Personalmangel und steigender Belastung der Gesundheitssysteme.
7. Der Wandel von patientenzentriert zu menschenzentriert
Was mich schon lange stört, sind die fast religiösen klingenden Marketingsprüche vieler Start-ups und Konzerne im Gesundheitswesen: „wir sind radikal patientenzentriert“. Das klingt zunächst charmant. Denn letztlich geht es doch genau um sie, unsere Patienten, oder?
Das Problem ist, dass kaum eine schwerwiegende Erkrankung im Vakuum stattfindet. Stattdessen sind eine Vielzahl verschiedener Personen daran beteiligt, dass es uns besser geht, wenn wir Hilfe brauchen: Unsere Angehörigen, unser Freundeskreis, Pflegekräfte, Ärztinnen und Ärzte, Physiotherapeuten und -Therapeuten, etc. — wieso sollten wir ihre Bedürfnisse ignorieren? Burnoutraten und ausgesprochene Frustrationen im System haben unzumutbare Höhen erreicht und ausgebranntes Personal kann keine Spitzenleistungen für seine Patient:innen bringen.
Ausserdem ist eine der wichtigsten Komponenten im Genesungsprozess eben genau die zwischenmenschliche Begegnung, die man ignoriert, wenn man sich aus nicht durchdachten ideologischen Prinzipien einzig und allein auf einen Teil des Ganzen, nämlich die Patient:innen fokussiert.
Dies erfordert ein Umdenken der Innovatoren-Szene, weg von Allgemeinplätzen und einer künstlichen Vereinfachung der Komplexität des klinischen Alltags. Aber auch unser Gesundheitspersonal muss sich deutlich stärker als zuvor involvieren in die Entwicklung digitaler Technologien, um neue Perspektiven zu präsentieren.
8. Der Wandel von linear zu zirkulär
Bisher war es vollkommen in Ordnung, dass das Gesundheitswesen überwiegend mit Einweg-Produkten arbeitet. Mit dem Totschlagargument der Patientensicherheit wurden so bevorzugt Produkte weggeworfen statt wiederverwendet. Doch als wir unter Covid merkten, dass wir nicht einfach alle Schutzausrüstung nach einmaligem Gebrauch entsorgen können, wurde Zirkularität auf einmal eine Kernsäule der Resilienz. Man begann beispielsweise zu testen, wie gut die Filterqualität von Schutzmasken ist, nachdem man sie sterilisiert hat—und siehe da: Es klappt. Und so versteht man auch langsam, dass auch Nachhaltigkeit ein wichtiges Thema ist für das Gesundheitswesen, das immerhin etwas über 4 % zu den globalen CO₂-Emissionen beiträgt.
Hier erwarte ich zunehmend nachhaltigkeitsorientierte Beschaffungsrichtlinien, digitale Plattformen und auch andere Haltungen innerhalb des Gesundheitspersonals.
Was bedeutet das für die verschiedenen Akteure?
Wir haben einen steigenden Kostendruck und ein grosser Anteil unserer Arbeitskräfte im Gesundheitswesen sind massiv frustriert mit den aktuellen Rahmenbedingungen. Gleichzeitig nehmen die Möglichkeit enorm zu.
In Anbetracht dieser drängenden Herausforderungen im deutschen Gesundheitswesen ist es unabdingbar, dass die verschiedenen Akteure gemeinsam handeln und sich an die sich verändernde Realität anpassen. Nur durch koordinierte Massnahmen und die Bereitschaft, überkommene Strukturen aufzubrechen, kann die Nachhaltigkeit und Zukunftsfähigkeit des deutschen Gesundheitssystems gewährleistet werden.
Wir müssen Diskussionen um Allgemeinplätze beenden und jetzt in die Tiefe der Themen einsteigen und teilweise klar Stellung zu unangenehmen Fragen beziehen.
Planen Sie eine Tagung oder Konferenz zum Thema Gesundheitswesen im Wandel, Tendenzen und Herausforderungen? Dann ist Dr. Sven Jungmann der passende Experte und Redner für Ihre Veranstaltung. Anfragen unter: +49 (0)30 640 777 42 oder contact@leading-minds.com